Posted on Leave a comment

Presseartikel: “Tänze und Gebete” (NZZ)

Datum: 2.7.2008
Medium: Neue Zürcher Zeitung
Titel: Tänze und Gebete
Original: Ja: NZZ Boswil 2-7-2008

Tänze und Gebete

Das Klassik-Festival «Boswiler Sommer»

Mit stetig wachsendem Erfolg hat sich in der säkularisierten Alten Kirche Boswil ein von der Stiftung Künstlerhaus Boswil getragenes Klassik-Festival etabliert. Am «Boswiler Sommer» sind tatsächlich erstaunliche Dinge zu hören. Andreas Fleck,der die künstlerische Leitung des Festivals innehat und selber jeweils als Cellist und Mitglied des Casal-Quartetts mitwirkt, hat ein gutes Gespür dafür entwickelt, wie er sein Publikum einerseits mit Interpretationen von Repertoire-Werken in hoher Qualität begeistern und andrerseits doch immer wieder Neues, Überraschendes bringen kann. Und seien es neue interpretatorische Perspektiven, aus denen bekannte Werke zu hören sind.

Leidenschaft

Joseph Haydn zum Beispiel: Zum Abschluss des Eröffnungskonzertes am vergangenen Samstag erklang Haydns Sinfonie Nr. 49 f-Moll (1768), welche «In Nomine Domini» komponiert worden ist und den Untertitel «La passione» trägt. Ganz brüchig entstanden die ersten Klänge im Kirchenraum, an der Hörschwelle, mit einer intensiven, nach innen gekehrten Spannung. Explosiv dann, wie scharf Kontraste herausgestrichen wurden. Plastisch artikuliert, voller Leben und ganz aus der Körperbewegung heraus empfunden wurde gespielt. Und formal so genau ausgehört, dass aus den vier Sätzen wirklich ein Ganzes entstand – «passione» nicht nur als Leidensgeschichte, sondern auch als leibhaftig erlebte, körperliche Leidenschaft. Eine höchst bemerkenswerte Interpretation also. Dargeboten wurde sie von dem aus den Kammermusikerinnen und -musikern des Festivals zusammengestellten Orchester «Concerto Boswil», erarbeitet und geleitet vom erfahrenen, etwas extravagant, aber wirkungsvoll im Orchester agierenden Konzertmeister Stephan Mai.

Mai hatte den Abend mit Johann Sebastian Bachs erstem Brandenburgischen Konzert (erste Fassung) bereits überzeugend eröffnet. Auch das dritte Cellokonzert G-Dur von Luigi Boccherini leitete er vom ersten Pult aus hellhörig und kommunikativ. Solist war der junge Schweizer Cellist Sebastian Diezig, der das Werk gleichsam aus dem Orchesterklang heraus interpretierte, wendig, mit glockenreinem, wandlungsfähigem Ton. Diezig war kurzfristig für den erkrankten Julius Berger eingesprungen; von ihm wird man mit Sicherheit wieder hören. Ein Gegenpol im Eröffnungsprogramm war das «Concerto doppio» op. 63 (1927) von Ervı ́n Schulhoff, komponiert für Flöte, Klavier und Streichorchester mit zwei Hörnern. Und es braucht sie, diese Gegenpole, die einem die Ohren öffnen, danach einen Bocchrrini, einen Haydn neu erleben zu können. Unter der Leitung von Massimiliano Matesic entstand mit den Solisten Jacques Zoon (Flöte) und Oliver Schnyder (Klavier) eine befreiende, prickelnde Aufführung, die kräftig zur Sache gehen konnte, virtuos die überschäumende Phantasie dieser Musik aufblühen liess und dann wieder ganz feine Zwischentöne fand. So packend gespielt kann das Werk kathartische Wirkung entfalten.

Katharsis nach aussen und innen steckt auch im Motto «Tänze & Gebete» des Boswiler Sommers 2008. So wurde das zweite Konzert mit einem Solo der Tanz-Performerin und Vokalistin Stefanie Grubenmann eröffnet – ein skurriler, kapriziöser und höchst eigenwilliger Auftritt. Anschliessend gab es eines dieser Boswiler Experimente, die das Festival braucht, um lebendig zu bleiben. Prokofjews Quintett op. 39 g-Moll war einst als Ballett gedacht, nun wurde es von Stefanie Grubenmann und der Flamencotänzerin Bettina Castañ ̃o gemeinsam choreografiert. Nicht immer geglückt, man hatte den Eindruck, dass die beiden ihre Berührungspunkte etwas unter ihrem eigentlichen Niveau fanden, wie das bei Begegnungen nicht nur verschiedener Tanzkulturen oft der Fall ist.

«Festival artists»

Stefanie Grubenmann wird man am Boswiler Sommer noch in zwei weiteren Auftritten erleben können. Die Performerin ist eine der drei festival artists, die beiden andern sind der Aargauer Pianist Oliver Schnyder, der eine erstaunliche internationale Karriere macht, und die hochtalentierte junge deutsche Geigerin Veronika Eberle. Beide sind in Boswil in mehreren Konzerten zu hören.

Alfred Zimmerlin

 

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *