Weil ich als Kind alle Stücke nach Gehör lernte, konnte ich lange kaum Noten lesen. Erst mit dem Beginn des Studiums lernte ich im Gehörbildungsunterricht die Grundlagen. Lange Zeit blieb aber Noten lesen meine grosse Schwäche. Als ich dann anfing im Orchester zu arbeiten, konnte ich “first-hand” gewisse Kollegen mit phänomenalen Blattspiel-Fähigkeiten beobachten. Bald realisierte ich, dass es ungemein nützlich ist, wenn man Musik auf hohem Niveau vom Blatt spielen kann. Ich beschloss also, mich in dieser Disziplin zu verbessern. Noch bin ich nicht auf einem absoluten Spitzen-Level und vielleicht werde ich es nie sein, zumal man im Blattspiel schwerlich jemals genug gut sein. Aber seit ich vor ca. sechs Monaten mit täglichem Prima-Vista-Training begonnen habe, habe ich bereits viel gelernt.
Warum ist es erstrebenswert, ein guter Blattspieler zu sein?
1. Zeitersparnis: Früher musste ich alles mühsam entziffern, vor ich mit dem Üben anfangen konnte. Jetzt kann ich direkt anfangen zu Üben, weil ich Rhythmen, Tonhöhen, Dynamiken usw. viel schneller erkenne. Viele Stellen und manchmal auch ganze Sätze muss ich gar nicht mehr üben, weil sie nicht schwierig genug sind.
2. Blattspieler können sich auf das Wesentliche konzentrieren: Zwar gibt es Leute, die das Gegenteil behaupten. Für mich aber ist klar, dass ein Musiker, der den Notentext in seiner Gesamtheit blitzschnell erfassen kann, sich viel schneller mit den Feinheiten des Musikmachens auseinandersetzen kann als jemand, der alles zuerst mit Mühe entziffern muss. Gute Blattspieler können Musik fliessend lesen etwa so wie du und ich den Text dieses Artikels fliessend vorlesen könnten. Auch verstehen Sie die Rhythmen der anderen Stimmen schneller und können sich daher leichter ins musikalische Geschehen einordnen und z. B. auch ohne Schwierigkeiten Stichnoten in die eigene Stimme einschreiben. Mir scheint, dass sie ganz allgemein die besseren Reflexe im Zusammenspiel mit anderen Musikern haben.
3. Den Dirigenten oder die Mitmusiker besser beobachten: Weil Sie die Fähigkeit haben, vorauszulesen, können Musiker mit guten Primavista-Fähigkeiten den Dirigenten im Blick behalten, ohne den Faden zu verlieren.
4. Es macht Spass und ist ein gutes Gehirnjogging: Blattspielen ist meiner Meinung nach eine der faszinierendsten Fähigkeiten, die ein Musiker haben kann. Die Zeit vergeht wie im Fluge – ich vermute, dass sehr viele Gehirnareale gleichzeitig beansprucht werden und zusammenarbeiten.
Wie man seine Blattspiel-Fähigkeiten verbessern kann
1. Jeden Tag ein paar Seiten aus unbekanntem Notenmaterial lesen. Auf imslp.org gibt es Material in Hülle und Fülle. Man sollte mit einfachen Sachen anfangen (z. B. Cellostimmen aus Mozart- oder Haydn-Quartetten und Sinfonien). Mit der Zeit kann man dann progressiv zu immer schwierigeren Komponisten und Werken vorstossen.
2. Ein Tempo wählen, in welchem man es schaffen kann. Es macht wenig Sinn, etwas sehr schnell, aber schlecht zu spielen. Viel schlauer ist es, langsam aber korrekt zu lesen. Ein Metronom kann helfen, hier die nötige Geduld und Disziplin zu haben.
3. Noten überfliegen. Vor man anfängt zu lesen, kann man kurz das Stück überfliegen um sich die Tonarten und komplizierte Rhythmen zu merken.
4. Fake it until you make it. Wenn eine Stelle ab Blatt unspielbar ist, sollte man sie “faken” (deutsch: fälschen). Bei einem Lauf beispielsweise sind immer der erste und letzte Ton sehr wichtig und sollten gespielt werden. Was dazwischen passiert ist nicht so wichtig – es kann sogar ein geschickt ausgeführtes Glissando sein. Bei komplizierten Stellen muss man auch oft vereinfachen und nur die wichtigen Töne bringen so dass es ungefähr richtig klingt. Besonders beim Lesen in einem Ensemble oder einem Orchester ist “faken” häufig der einzige Weg, eine Stelle im richtigen Tempo zu spielen. Versucht man stattdessen alle Töne zu spielen, so kann man leicht ein “Bremsklotz” für die anderen Musiker sein.
5. Der Puls ist die oberste Priorität: Egal was geschieht, man sollte immer das Tempo behalten und den Puls der Musik einhalten. Dies, weil man beim Spielen in einem Ensemble nicht einfach mal einen Takt überspringen darf.
6. Mit den Augen immer voraus lesen: Der Blick sollte beim Lesen immer auf die kommenden Takte gerichtet sein, sonst ist man zu spät. Diese Fähigkeit entwickelt sich mit der Zeit von selbst, sofern man oft vom Blatt spielt. Anfänglich muss man dazu wie bereits erwähnt in einem langsamen Tempo lesen.
7. Schönen Ton und gute Intonation anstreben: Man sollte es dem musikalischen Resultat wenn möglich nicht anhören, wenn jemand vom Blatt spielt.
8. Fehler später untersuchen. Das oberste Ziel ist immer Musizieren ohne Unterbruch, da dies in der Praxis wichtig ist. Bemerkt man Fehler, kann man die anschliessend kurz anschauen und üben.
Was man sonst braucht:
1. Fitness auf dem Instrument: Ich bin überzeugt, dass wirklich souverän und überzeugend vom Blatt nur spielen kann, wer sowohl in der linken als auch in der rechten Hand eine sehr sichere Technik hat. Da es beim Blattlesen immer sehr schnell geht, muss die Geographie des Griffbrettes verinnerlicht sein. Auch die Reflexe für den Klang (Bogeneinteilung, Bogengeschwindigkeit, Vibrato usw.) müssen sehr gut sein, da keine Zeit für ein Einrichten der Stimme da ist. Deswegen sollte man weiterhin tagtäglich seine Tonleitern und Arpeggien üben sowie an Etüden und den grossen Werken des Repertoires arbeiten.
2. Geduld und Ausdauer: Die Entwicklung guter Prima-Vista-Fähigkeiten ist nicht über Nacht zu schaffen. Wie beim Cellospielen selber braucht auch das Blattlesen jahrelange, tägliche Übung.