Aus meiner Sicht ist es für jeden guten Musiker ein Plus, wenn er auch selber komponiert. Einerseits hat er so etwas ganz Spezielles in seinen Konzerten zu bieten und andererseits verfügt er dann nicht nur über die Perspektive des Interpreten, sondern auch über die eines Komponisten.
Die Komponisten-Perspektive erweitert den Horizont
Ich selber bin ein Gelegenheitskomponist und schreibe für den Eigengebrauch. In den letzten fünf Jahren habe ich 2 Stücke für Solocello (Blues, 2007 & Top Gun Variations 2012) sowie eine Kadenz für das Haydn C-Dur-Cellokonzert und eine für ein Boccherini-Konzert geschrieben. Trotz meines quantitativ sehr bescheidenen “Outputs” hat sich für mich dadurch der Horizont beim Interpretieren merklich erweitert. Ich sehe den Notentext anders seit ich komponiere, nämlich auch durch die Brille eines Komponisten. Als Komponist weiss man, dass es sehr viele Möglichkeiten gibt, eine Stelle niederzuschreiben. In der Tat ist man ständig zwischen sehr vielen Möglichkeiten am entscheiden. Es ist für mich beim Interpretieren zwar interessant zu sehen, wie ein Komponist etwas niedergeschrieben hat. Aber viel wichtiger ist für mich die Frage: Was wollte er als Klangresultat? Und dazu muss man manchmal den Text eben nicht gar zu orthodox lesen, sondern gewissermassen zwischen den Zeilen um zu verstehen, welche Entscheidungen er getroffen hat und warum. So gesehen erlaubt ein Notentext oft viele Lese-Möglichkeiten. Allzuoft erlebe ich aber, dass Musiker etwa über bestimmte Bogenstriche diskutieren (“es steht doch so drin!”). Für einen Komponisten ist es jedoch nur wichtig, dass etwas gut klingt. War er bsp. ein Pianist, so wird er oft Phrasierungsbögen schreiben, die man sicher nicht immer als Bogenstriche interpretieren darf.
Weitere Vorteile kommen hinzu: Man sieht, wie schwer es ist, ein gutes Werk zu schreiben und hat mehr Respekt vor jedem Komponisten. Und man analysiert Musik mit mehr Kompetenz und merkt hier und da auch bei grossen Komponisten, dass bei ihnen die Inspiration nicht immer gleich gut war. Um jedoch von allen “Benefits” des Komponierens zu profitieren, ermuntere ich jeden Musiker, selbst zu komponieren, denn es ist ein sicherer Weg, um mehr über Musik zu lernen.
Grosse Musik stammt aus der Feder komponierender Musiker
Ein anderer Punkt ist der, dass meiner Meinung nach heutzutage zu viele Komponisten nur komponieren und selber vielleicht nicht mal ein Instrument beherrschen mindestens aber nicht konzertieren und auf der anderen Seite viele Musiker zwar supergut spielen, aber nie etwas selber schreiben. Mir scheint, dass das eine nicht ohne das andere geht. Nehmen wir jeden grossen Komponisten der Vergangenheit: Brahms, Bach, Beethoven, Liszt, Chopin, Boccherini, Paganini etc. Sie waren nicht nur grosse Komponisten, sondern auch grosse Interpreten. Weil sie ihre Werke selber im Konzert aufführten, hatten sie sehr hohe Qualitätsansprüche an ihr kompositorisches Schaffen, bestimmt nicht zuletzt, weil sie sich nicht blamieren wollten. Im Gegensatz dazu steht die Musik der zeitgenössischen Nicht-Musiker-Komponisten: laut, grob, dissonant und unästhetisch.
Ich wage zu behaupten, dass die wirklich grosse Musik auch heutzutage von den Leuten geschrieben wird, die selber konzertieren. Warum nicht z. B. von dir?
Siehe auch: “Der Do-it-yourself-Musiker“